Stern Gesund Leben, Nr. 2/2013, S. 119, ff.

 

Auf den Inseln ist so wenig los, als lägen sie in einem besonders stillen Ozean

 

Ein Wildschwein. Feist und beige-braun gescheckt, blockiert es den Abstieg zur Tahiti-Bucht. Die liegt nicht in der Südsee, sondern auf der italienischen Insel Caprera. Mit seinem Rüssel wühlt das Tier in der nach wildem Lavendel duftenden Macchia und hat offensichtlich weniger Angst vor mir als ich vor ihm. Erst als Ivan dazukommt und mit den Armen fuchtelt, galoppiert die Sau davon. Es knackt im Unterholz, dann ist der Weg zu einer der spektakulärsten Buchten des Mittelmeeres frei.

 

Ohne meinen Pensionswirt hätte ich sie vielleicht nie gefunden. Kaum markiert windet sich ein steiniger Trampelpfad durch wilde Olivenbäume, Zistrosen und knorrige Myrtensträucher hinab zum Strand. Hier und dort schimmert das Tyrrhenische Meer durchs Laub, Segelyachten ziehen am Horizont vorüber. Und als wir von den letzten schrundigen Findlingen hinunter in die Tahiti-Bucht hüpfen, ahne ich, woher sie ihren Namen hat: Durchscheinend türkisfarbene Wellen, wie zufällig dahingestreute Felsen und porzellanweißer Sand stehen dem Vorbild aus der Südsee in nichts nach. Erstaunlich, dass sich an diesem Strand bei schönstem Sonnenschein außer uns kein Mensch blicken lässt. Und noch wundersamer, dass auch die anderen Prachtstücke des Maddalena-Archipels kaum ein Mensch zu kennen scheint.

 

Vor der Nordküste Sardiniens, im Windschatten Korsikas, schwimmt ein Nationalpark aus sieben Hauptinseln im Mittelmeer. Dazu kommen rund 60 weitere Inselchen, allesamt Überreste einer vor Jahrmillionen versunkenen Landbrücke zwischen Korsika und Sardinien – 180 Kilometer Küste mit oft winzigen klaren Fjorden und samtigen Sandbuchten. Außer in der Hauptsaison, wenn die Yachten von der Costa Smeralda hierhersteuern, ist auf den Inseln so wenig los, als lägen sie nicht im dicht besiedelten Europa, sondern in einem besonders stillen Ozean. Dabei musste ich nur im sardischen Hafen Palau eine Fähre entern und zum Archipelhauptstädtchen La Maddalena übersetzen – eine kurze Passage durch schimmernde Gewässer, wie von Meisterhand in Blau, Grün und Silber dahingerutscht, an deren Ende die Frage steht: Warum ist die Inselgruppe auf keiner Hitliste von Reisezielen zu finden? Und warum späht außer Ivan und mir niemand durch die plätschernden Wellen auf die Seegraswiesen, in denen häufig Delfine spielen?

 

Als ich mich auf dem Rückweg über die unberührte Natur wundere, lächelt der gut gelaunte Pensionswirt. „Die meisten von uns reißen sich einfach nicht darum, dass unsere Inseln bekannter werden.“ Vor 44 Jahren wurde mein Begleiter hier geboren. „Wir Madalener sind ein wenig kauzig, halten uns vielleicht für etwas Besseres. Jedenfalls sind wir nicht so hibbelig wie die Festlanditaliener und nicht so langsam wie die Sarden“, behauptet er. „Am liebsten hätten wir die Inseln für uns. Aber das wäre natürlich total unökonomisch. Und unanständig. Stimmt’s?“ Schon. Tatsache ist: Bis 2008 waren die Maddalenas auf Tourismus nicht angewiesen. Die Inseln lebten blendend von der US-Marine, die hier eine Atom-U-Boot-Basis mit mehr als 2000 Militärs unterhielt. Seit dem Abzug verharrt das als Nationalpark geschützte Insel-Puzzle wie in der Schwebe. Keiner weiß, wie man hier in Zukunft gutes Geld verdienen soll.

 

Möwen putzen sich das Gefieder, Fische tanzen durch die salzige Luft

 

So schwierig kann das nicht sein, denke ich, als ich nach unserem Ausflug mit Ivan von Caprera über den Brückendamm zurück zur benachbarten Hauptinsel radle. Um mich herum ragen Granitbuckel aus dem Türkis empor. Möwen putzen sich auf den Felsspitzen das Gefieder. Ein Fisch tanzt durch die salzige Luft. Ist doch alles da, was Touristen lieben! Die Frage ist nur, welche Art und Anzahl von Gästen erwünscht sind. Als wir uns dem Städtchen La Maddalena nähern, weist Ivan auf Porto Arsenale, den früheren Militärhafen. Dort wurde auf Betreiben des damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der Staatsgäste bei einem geplanten G-8-Gipfel beeindrucken wollte, ein Kongresszentrum samt Luxushotel und riesigem Yachthafen hinbetoniert. Da ist allerdings kaum etwas los.

 

Die Mehrzahl der Hotels und Pensionen ist in der Hauptstadt mit ihren rund 12.000 Einwohnern zu finden. In La Madalena haben sich Nachfahren von Hirten aus Korsika und Korallenfischern vom Festland niedergelassen. Ihr Erbe findet sich in der Küche wieder, in der sich französich-korsisches Savoir-vivre aufs Köstlichste mit italienisch-sardischen Rezepten verbindet. In der verwinkelten Altstadt verabschiede ich mich von Ivan und lasse mich an der Piazza Garibaldi unter Palmen in einem Café-Restaurant zu Cidre und „gattò“ nieder. Letzteres ein Krokantgebäck aus Mandeln und Pinienkernen. Stattliche Bürgerhäuser der vorvergangenen Jahrhundertwende, dezent cremefarben oder altrosa gestrichen, wechseln mit Fassaden voller Patina. Vom Singsang am Nebentisch verstehe ich kein Wort. Die Herrenrunde in feinen Sakkos mit Einstecktuch unterhält sich in Maddalenino, einer Mischung aus Südkorsisch und den genuesischen Dialekt, die fast nur noch die Senioren sprechen. An der Bar holt ein Sophie-Loren-Double noch zappelnde Fische aus der Einkaufstasche. Die Markthalle liegt nur ein paar Schritte entfernt.

 

Als vom Kirchturm der Heiligen Maria Magdalena die Mittagsstunde schlägt, flaniere auch ich zwischen den Ständen mit sardischen Köstlichkeiten: dünnes Knäckebrot „pane carasau“ und herb-bitterer „corbezzolo“, Honig aus den Blüten des Erdbeerbaums. Umberto, der auf dem Markt eine „salumeria“ betreibt, will die Besucherin aus Germania gar nicht mehr weglassen. „Wir haben hier nicht viele Gäste“, sagt er, deckt mich mit Wurst- und Käsehäppchen ein und schimpft: „Das Blaue vom Himmel hat uns die Landesregierung in Sachen Tourismus versprochen, nachdem der G-8-Gipfel bei uns abgeblasen worden war. Und jetzt? Passiert nichts.“

 

Irene Galante hingegen, eine drahtige Meeresbiologin mit trockenem Humor, ist froh, dass es eine Tourismusschwemme auf dem Archipel wohl nie geben wird. „Unser Pfund ist die Natur“, sagt die 40-Jährige, „und die schützen wir am besten, indem wir die Gästezahl im Zaum halten.“ Seit mehr als vier Jahren leitet sie das Delfin-Forschungszentrum auf Caprera und kämpft dafür, dass die Delfinpopulation, die im Insellabyrinth ihren Nachwuchs großzieht, nicht durch Fähren, Motorboote und Fischerei gefährdet wird. „Wir haben hier Hunderte verschiedener Tier- und Pflanzenarten. Einige leben nur auf diesen Inseln und drum herum. Die Zukunft sind für mich Touristen, die Urlaub machen und zugleich die Natur schützen wollen.“

 

Abends spazieren wir durch die Gassen. Überall stehen Grüppchen, es summt von Klatsch und Tratsch. Mit Glück bekommen Irene und ich einen Tisch vor der „Bar Fiume“. „So nett es hier ist – leicht ist es für Zugezogene nicht, auf Maddalenas Fuß zu fassen“, erzählt die gebürtige Mailänderin. „Es dauert, bis man dazugehört.“

 

Hügel voller Erdbeerbäume und süß-herb duftende Macchia

 

Am nächsten Morgen ist die Sonne noch nicht weit über den Horizont geklettert, als wir nach Budelli aufbrechen. Irene will mir einen der bestgehüteten Schätze des Nationalparks zeigen: eine nur 1,7 Quadratkilometer kleines, unbewohntes Eiland – fast unbewohnt. Nur Mauro, der Inselwächter, haust rund ums Jahr auf Budelli. Irenes Kollege Yuri lässt das Motorboot der Wissenschaftler über die spiegelglatte See gleiten. Das Wasser ist so klar, dass ich zehn Meter tief bis auf den Meeresgrund schauen kann. Fast kippe ich über Bord, als Yuri unvermittelt das Gas drosselt: „Delfine, jede Menge Delfine!“ Und wirklich, vor uns springt eine Schule von vielleicht 30 Großen Tümmlern synchron wie ein Meeresballett aus den Wellen. Irene ist aus dem Häuschen: „Was du für ein Glück hast!“ Wir tuckern weiter, umkreist vom tierischen Empfangskomitee.

Minuten später ankern wir in einer kleinen Bucht. Über den Strand ragt ein mit Erdbeerbäumen und Büschen betupfter Hügel auf. Ein sportlicher Mittsechziger in verwaschenen Shorts stapft uns energiegeladen am Ufer entgegen: der Inselwächter. Durch süß-herb duftende Macchia und Strohblumen führt uns Mauro zu seinem Bretterverschlag, den er selbst zusammengezimmert hat. „Ecco casa mia! Setzt euch …“ Auf einem wackeligen Korbstuhl und einer verschlissenen Matratze nehmen wir Platz und trinken einen Espresso, so stark, dass er wie heißer Sirup wirkt. Der Blick reicht über den Inselgarten aus Wasser. So kann ein Arbeitsplatz also auch aussehen. Der Hausherr zündet sich eine Zigarette an und erzählt: „Vor gut 20 Jahren ging mein Segelboot vor den Maddalenas kaputt. Gerade, als hier ein neuer Wächter gesucht wurde. Das ist Schicksal, dachte ich und blieb.“ Seither sorgt Mauro, dessen einziges Fortbewegungsmittel ein Motorschlauchboot ist, nicht zuletzt dafür, dass niemand an der legendären Spiaggia rosa anlegt und etwas von ihrem rosafarbenen Sand mitnimmt. Von seiner Hütte aus hat er die Bucht allzeit im Blick. Der Hauch Rosa stammt von Einzellern, die auf dem Neptungras am Meeresgrund siedeln.

 

Manchmal verzweifelt Mauro an den Besuchern: „Jeder tut so, als gehörte die Insel ihm. Budellis Schönheit einfach nur im Herzen bewahren: unmöglich. Alles wollen die Leute besitzen, und sei es Sand, obwohl es streng verboten ist, den mitzunehmen.“ Neulich seien Schickimickis von der Costa Smeralda mit drei Riesenyachten aufgekreuzt. Mauro zeigte ihnen großherzig den versteckten Pfad durch die Macchia auf den 88 Meter hohen Monte Budello. „Die hatten Hermès-Picknickköfferchen dabei und eisgekühlte Champagnerflaschen.“ Am nächsten Morgen fand er auf seiner Kontrollrunde abgenagte Hühnerbeine, zerfledderte Servietten, leere Flaschen. „Mir kamen fast die Tränen – und das will was heißen bei mir.“ Er deutet auf eine Flasche Edel-Sonnenmilch. „Die haben die Trottel auch liegen lassen. Lustig war nur, dass alle Breitrandschildkröten vom Monte Budello zu meiner Hütte gestakst waren. Die konnten die wohl auch nicht leiden.“

 

Begleitet von Mauro, schlendern Irene, Yuri und ich zurück zu unserem Motorboot. Bevor ich an Bord klettere, streife ich sorgfältig den Sand von meinen Füßen – schließlich will ich die kostbaren rosafarbenen Körnchen ja nicht von ihrem Stammplatz verschleppen. Das allerdings findet selbst Mauro übertrieben.