Alt werden und alt sein  - im Abgleich der unterschiedlichen Kulturen

 

Auf Sardinien scheint die Zeit zum Teil stehen geblieben und deswegen bleibt hier keiner alleine, außer er/sie will es so, man bleibt Teil der Großfamilie und zwar als wertvolles Mitglied der Familie. Vereinzelt gibt es hier Altenheim die sich casa di riposo (Haus zum Ausruhen) nennen, aber eben nur vereinzelt. In meinem Dorf und den umliegenden gibt es keins. In einem Nachbardorf hatten sie mal eins gebaut, es steht bis heute leer. Hier gibt man seine Familienmitglieder nicht ab nur weil sie irgendwann “kaputt” sind, kaputt im Sinne von funktionieren nicht oder nicht mehr (bzw. nicht mehr so schnell), auch Kranke und Behinderte sind hier wie die Kinder und die Alten ganz selbstverständlich Teil der Familie, zumindest noch hier in den Dörfern, die Sardinien hauptsächlich ausmachen. Noch ist es so!

 

Ich glaube das Problem ist nicht das Älterwerden (passiert ja eh für alle mit jedem Tag), sondern das alt sein. Über die Lesebrille macht man noch Scherze über das ein oder andere Zipperlein kann man auch noch lachen, aber ab dem Moment in dem man realisieren muss ohne Hilfe (und sei sie am Anfang noch so klein) geht es nicht mehr, ab da wird’s hart und ab da sieht man dann auch in welcher Gesellschaft man sich befindet und ggf. auch wie man es selber vorlebte. In vielen westlichen Ländern wozu ich auch Deutschland zähle hat man einen würdelosen Umgang mit dem Altern wie mit den Alten wie mit jeder anderen “nicht funktionierenden” Gruppe.  Je länger ich hier auf Sardinien lebe, umso mehr habe ich das Gefühl ich bin hier absolut richtig. Mir ihrer Art miteinander umzugehen, damit haben sie mich sofort für sich eingenommen, ich mag die Sarden. Hier bleibt man mit dabei und man hat auch noch ne „Funktion“, man ist nicht einfach überflüssig und störend. Zig Studien haben sie hier schon gemacht, warum die Leute hier so alt werden. Klima und Ernährung tragen natürlich einen großen Anteil dazu bei, auch das sie hier nicht so “bequem” leben, hier sind sie bis ins hohe Alter aktiv, Vollautomatisches das einem alles abnimmt, gibt es hier kaum. Hier heizen noch viele mit Holz. Für das tägliche Leben muss man sich hier anstrengen. Ich interessiere mich sehr für die Entwicklungspsychologie und Ethnologie also für das Leben in den unterschiedlichen Lebensphasen (die uns allen, wenn wir nicht jung sterben, obliegen) und den unterschiedlichen Umgebungs- und Gesellschaftseinflüssen sowie die Handhabungen in unterschiedlichen Kulturen. Spannend ist es immer, wenn Menschen aus unterschiedlichen Lebensphasen und aus unterschiedlichen Kulturen zusammen kommen. Da ich mich schon früh mit anderen Kulturen beschäftigte und in anderen Kulturen so viel mehr Herzlichkeit, Miteinander und Wärme fand, konnte mir Deutschland nie zur inneren Heimat werden, wo alles nur auf Separation und Ausgrenzung ausgelegt ist (beginnend mit dem Schulsystem bis hin zu den Altenheimen, die man auch allesamt Orte der Problemkonzentration nennen könnte). Während mir in Deutschland nahezu jeder ausreden wollte, dass ich meine Mutter zu mir in ein gemeinsames Haus holen wollte, versteht hier auf Sardinien gar keiner, was überhaupt dagegen sprechen sollte. Eine sehr interessante Begebenheit zur deutschen Denkweise war mir im Herbst 2015 bekannt geworden. Ich suchte jemanden der mir in Afrika, genau in Gambia und dort in Brikama, helfen könnte, einer 80 Jahre alte Lady und ihren zig Enkel zur Seite zu stehen. Dank WorldWideWeb fand ich genau diese eine Person, die dort vor Ort helfen kann und die mir einiges erzählte u. a. dass SOS Kinderdörfer damals umdenken mussten. Auch wenn die Afrikaner noch so arm sind, niemals kämen sie auf die Idee ein Kind das Halb- oder Vollwaise wurde aus dem Familienverbund zu geben um es bei Fremden, abgekoppelt von der Großfamilie, aufziehen zu lassen. Nicht ein Kind wurde dort “abgegeben”. SOS Kinderdorf sattelte um und machte Schulen draus. Kein “Schwarzer” hat verstanden was der “Weiße” da eigentlich von ihnen wollte. Und auch wenn meine Hautfarbe weiß ist, meine Seele ist schwarz.

 

Sich in andere Kulturen wie auch in andere (noch nicht selbst erlebte) Lebensphasen hinein zu versetzen, ist herausfordernd und eventuell sogar schwer. Ich bevorzuge hierzu das Gespräch, in dem ich solange frage bis ich es verstanden habe oder erahnen kann wie es sein muss. Aber es gibt auch wunderbare Filme, die einem das vermeintlich andere oder unbekannte näher bringen können. Bezogen auf Lebensphasen oder Lebenssituationen finde ich zwei Filme ganz hervorragend. Anfang 80: https://www.youtube.com/watch?v=wGGKtPtVy2M ist ein Film der sehr nachdenklich stimmen kann. Wenn man grad eine traurige Grundstimmung hat, sollte man ihn nicht anschauen. Wie lang er in ganzer Länge auf youtube zu sehen ist, kann ich nicht sagen, meistens wird es schnell gelöscht. Es lohnt sich aber auch sich den Film auszuleihen. Ebenso wie diesen hier: Ausgegrenzt vom Wuppertaler Filmprojekt: http://www.medienprojekt-wuppertal.de/v_205. Dort geht es um Menschen mit Behinderung, die auf eine sehr offene Art über ihr Leben sprechen. Absolut sehenswert!

 

Ich bin nicht nur ein Freund der Entwicklungspsychologie und der Ethnologie auch der Philosophie. Aus dem östlichen mag ich den Buddhismus und auch Konfuzius aus der Antike Sokrates und Platon, den Aufklärer Montesquieu, den klaren Kant und Nietzsche, alles analytische und kritische und gerade gestern erst durch einen XING/Facebook-Kontakt drauf gestoßen und direkt Fan seiner Worte geworden: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/05/byung-chul-han-philosophie-neoliberalismus/komplettansicht: “Wir leben hier in Deutschland in einer Illusion.” Je länger ich von weit entfernt schaue, desto mehr sehe ich es auch so.

 

Khalil Gibran finde ich wortmalend philosophisch. In seinen Aufzeichnungen der Prophet führt er die Geschichte “von der Ehe” auf, die für mich auch “vom menschlichen Miteinander” heißen könnte:

 

Dann sprach Almitra erneut und sagte: Und was ist mit der Ehe, Meister? Und er antwortete und sagte: Ihr wurdet zusammen geboren und ihr werdet für immer zusammen sein. Ihr werdet zusammen sein, wenn die weißen Schwingen des Todes eure Tage verstreuen. Ja, ihr werdet zusammen sein auch in der stillen Erinnerung Gottes. Aber gebt eurer Gemeinsamkeit Freiräume. Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen. Liebt Euch, doch macht keine Fesseln aus der Liebe: Lasst sie ein wogendes Meer sein zwischen den Ufern eurer Seelen. Füllt einander die Kelche, doch trinkt nicht aus einem. Gebt einander von eurem Brot, doch esst nicht vom selben Laib. Singt und tanzt miteinander und freut euch, aber lasst jeden von euch auch allein sein, so wie die Saiten einer Laute allein sind, obwohl sie doch schwingen in ein und derselben Musik. Gebt eure Herzen, doch nicht in die Obhut des andern. Denn nur die Hand des Lebens vermag eure Herzen zu halten. Und steht beieinander, doch nicht zu nah. Denn die Säulen des Tempels stehen getrennt und der Eichenbaum und die Zypresse wachsen nicht im Schatten des anderen.

 

 

Das gerade diese Menschen extrem rar gesät sind, die eine Beziehung (sei es nun Ehe oder sonstiges Zusammenkommen) auf diese Art leben können, entspricht wohl der Realität und lässt Gibran zum Träumer werden. Was Han schreibt ist die Realität, was Gibran schreibt ist möglich und so wie Viktor E. Frankl es einst in schlimmster Not feststellen musste, ist die einzige Freiheit, die wir haben, ist die Wahl unserer Reaktion. Es liegt in jedermanns Hand daran mitzuwirken ob etwas Illusion oder Realität bleibt.

die zwei besten alten Herren, die ich kenne ;)