Teil 1
Manchmal wenn ich hier so durch die Berge streife, die Stille, die Farben, das Licht, die Düfte, die Wärme, die Weite auf mich wirken lasse oder auch wenn ich wieder Teil der herzlichen wie fröhlichen Gastfreundschaft der Sarden werde, die sagen, dass der Gast heilig ist und dies nicht nur sagen, sondern auch in vollen Zügen leben, schweifen meine Gedanken ab und ich stelle deutsch vertraut gewordenes in Frage.
Ich kam nicht her, weil Sardinien mein Auswanderungsland werden sollte. Der erste Moment ist nicht ganz so leicht in Worte zu fassen, aber vielleicht so: diese Insel hat mich in meinem Ursprung getroffen und in ihren Bann gezogen. Als ich vor etwa 4,5 Jahren aus dem Flugzeug stieg, erwartete mich die Insel der Vergessenen - wie die Sarden sie oft selber bezeichnen. Auch hier hat der Tag „nur“ 24 Stunden, aber die Zeit geht anders. Wenn ich über kilometerlange Strecken durchs vermeintliche Nichts fahre und dann in einem der abgelegenen Bergdörfer angelangt bin, scheint die Zeit sogar wie stehen geblieben. Dass am Tag meiner Auswanderung meine treue Armbanduhr ihren Dienst einstellte, war wohl schon ein Hinweis auf das, was mich erwarten würde.
Sardinien - eine Reise in eine längst vergessene Zeit. Eine Reise in meine Kindheit und auch in eine Zeit weit davor, die ich nur aus Erzählungen kenne.
Ich bin in Deutschland geboren, zum Glück vor 44 Jahren und ein paar Wochen, so dass ich noch ohne Computer, ohne Fernseher im eigenen Zimmer, ohne iPod, ohne iPad, von denen ich bis jetzt auch immer noch nicht so genau weiß, was ist das überhaupt, ohne Handy, blubbs und bla aufwachsen durfte. Eine Kindheit mit zerrissenen Hosen, dreckigen Händen wie Gesicht, ständigen Schrammen, aufgeschlagenen Knien - manchmal auch schön mit diesen kleinen schwarzen Steinchen drin – ein Dank an meine Mutter die diese mit akribischer Sorgfalt immer wieder entfernte (dem Erzählen nach muss meine Neugierde den Naturgesetzen auf die Spur zu kommen in der Nähe der kleinen schwarzen Steinchen besonders ausgeprägt gewesen sein), Bäume erkletternd, Frösche, Grashüpfer und Mäuse jagend (und übrigens auch gefangen – auch die Maus, das schreibe ich nicht ganz ohne Stolz), ständig Steine, Baumrinden und sonstiges wertvolles in den Hosentaschen und mit ein bisschen Glück war manchmal sogar auch 1 Groschen drin, was einen vor elementare Fragen stellte: „kauf ich mir am Büdchen umme Ecke besser 5 Feilchen oder 10 Brausedinger oder 1 Wassereis“, wovon man nach Aussage der Mutter meiner dienstältesten Freundin Läuse im Bauch bekam (was wir im weiteren Verlauf unseres Lebens übrigens als Lüge enttarnten – sehr zum Unbehagen der Mutter). Ach jaa, einfach eine wunderschöne Kindheit. Auch wir waren nicht nur lieb, nein wir kloppten uns auch mit denen vom Stadtbad (so nannten wir „die“ vom gegenüberliegenden Straßenzug) aber hinterher vertrugen wir uns auch wieder. Wir liebten die Sonne, den Schnee, den Regen, die Erde an unseren Händen und die Pfützen, die uns zum Reinspringen anlächelten. Ahh, und so viele wunderbare Düfte, mit denen ich so viel in Erinnerung bringe. Na ja, und irgendwann musste man ja erwachsen werden, nicht mehr auf Bäume klettern, keine Frösche mehr fangen, keine Steine mehr in die Hosentaschen stopfen (hmm, na ja gut, da arbeite ich immer noch dran).
Mit dem erwachsen werden hielten Einzelleistung und Leistungsdruck Einzug, Vergleich war wichtig, nicht mehr gemeinsames bauen von Baumhäusern. Als Einzelkind liebte ich meine 7 kleinen Freunde mit denen ich aufwuchs. Aber in der Schule wollten sie mir beibringen, dass es besser ist alles wieder allein zu machen, Matheaufgaben im Team zu lösen war nicht erlaubt, gut Matheaufgaben sind auch keine Baumhäuser (die allerdings mit der richtigen Flächenberechnung die größte Freude boten).
Eine Freundschaft aus Kindertagen ist mir geblieben, besagte dienstälteste Freundin – mehr ließ sich beginnend mit unterschiedlichen Schul- wie Lebenswegen nicht ins Jetzt retten. Das Kämpfen wurde mir vertraut, erst das Kämpfen um gute Noten, dann um gute Abschlüsse, um weiterführende Schulen, um Ausbildungen, um Jobs. Ziel: Leistung bringen! Mehr haben! Besser sein! Deutschland ist immer vorne weg, wer mithalten will, muss reinhauen. Mein Haus, mein Auto, mein Pferd!
Ich will nicht sagen, dass es verkehrt ist Leistung zu bringen, sich reinzuhängen, wenn man etwas mit Freude tut fühlt es sich nicht falsch, nicht krank an. Aber wenn ich dann die Aussage vom Aktionsbündnis Seelische Gesundheit lese:
„In Deutschland sind rund 40 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens einmal von einer psychischen Erkrankung betroffen.“
Dann frage ich mich: WIE kann das sein? Optimale Infrastruktur, optimales Gesundheitssystem, optimales Sozialsystem, optimales Schulsystem, optimales tralala. Als ich mich 2002 bei der Bottroper Tafel (Abgabe von Lebensmittelpaketen, deren Lebensmittel noch verzehrbar sind, aber das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, gegen eine Gebühr von 1,00 €) beteiligte, reichte die Menschenschlange ums Haus herum und es gab einen Ausgabetag. Heute sind es drei Ausgabetage und die Schlange zieht sich die Straße hoch. Andere Schlagzeilen aus Deutschland: Vereinsamung von Alten, immer mehr Single-Haushalte, immer mehr Krankheiten echte und erfundene wie ADHS, der unter Garantie Millionen deutscher Kinder eine Verabreichung von Ritalin verdanken, 40 % !!! der Deutschen sind im Laufe ihres Lebens einmal von einer psychischen Erkrankung betroffen, 40 % !!! der Deutschen sind im Laufe ihres Lebens einmal von einer psychischen Erkrankung betroffen. Ganz ehrlich, da pfeif ich doch lieber auf den ganzen optimalen Kram.
Hier auf Sardinien herrscht im deutschen Vergleich eine bedingt optimale Infrastruktur. Bedeutet: Bus fährt zweimal am Tag zur Hauptstadt und in angrenzende Dörfer, der eine kurz vor 6 Uhr morgens, der nächste um kurz vor 3 nachmittags. Das ist Fortschritt, früher nahm man den Esel. Aber mittlerweile besitzt auch hier fast jeder einen Pkw und die Straßen hier sind gut. Gesundheitssystem bedeutet hier, besser man achtet auf sich, was aber für die Gesundheit effektiver zu sein scheint als die Verantwortung für die eigene Gesundheit bei einem optimalen Gesundheitssystem abzugeben. Ein paar Kilometer weiter von meinem Dorf entfernt, liegt das Dorf Orroli mit den meisten 100jährigen Sardiniens (so ganz einig sind sie sich damit allerdings nicht, es scheint noch ein paar Dörfer mehr zu geben, wo die meisten über 100jährigen wohnen). Überhaupt hat Sardinien die höchste Konzentration von über 100jährigen innerhalb Europas (oder vielleicht auch weltweit, das weiß ich jetzt gar nicht so genau).
Ich fand im worldwideweb einen Bericht von 2002. Schon länger versucht man forschend zu ermitteln, warum es hier so viele kerngesunde Alte gibt: 
http://www.handelsblatt.com/archiv/einfache-lebensweise-garant-fuer-langes-leben-sardinien-ist-das-paradies-der-ueber-100-jaehrigen/2137380.html : 
„… 
Forscher finden kein sardisches "Langlebigkeits-Gen" 
Das Ergebnis der Studie: Nicht die Gene, sondern der einfache Lebensstil 
hält Körper und Geist vieler Sarden bis ins hohe Alter fit. "Umwelt, 
körperliche Aktivität, saubere Luft, ausgewogene Ernährung, frisches 
Quellwasser und ein stabiles Familien- und Gefühlsleben" nennt Deiana 
als wichtigste Garanten für langes Leben.
Auch der sardische Forscher Mario Pirastu, der die Bewohner von zwei 
sardischen Dörfern sechs Jahre lang studiert hat, glaubt nicht an ein 
spezielles sardisches Langlebigkeits-Gen. Menschen aus lange 
abgeschotteten Regionen wie Sardinien, Finnland oder Island seien zwar 
im Vorteil, weil ihre Isolation sie vor Krankheiten schützte. Wichtiger 
scheinen ihm jedoch die Lebens- und Essgewohnheiten zu sein: "Es 
stimmt schon, dass diese Menschen niemals Nutella gegessen haben", 
betont er mit Blick auf heutige Ernährungsgewohnheiten. (eigene 
Anmerkung: oha, als ich das las kriegte ich einen kleinen Schrecken – 
kein Nutella, oha oha)
Doch auch ein asketisches Leben scheint kein Garant für das lange 
Leben: Giovanni habe immer gut und reichlich gegessen, versichert seine 
65-jährige Tochter Stefanina. "Milchkaffee und Brot zum Frühstück. 
Schwein und Lamm zum Mittag ... und immer ein bißchen Wein." Noch 
heute könne er nicht auf Süßigkeiten verzichten, sagt sie. Ihr Vater nimmt 
sich währenddessen die nächste Praline aus der Konfektschachtel.“
Ich mag Giovanni (Stefaninas Vater), er war 111 Jahre alt als sie den Artikel 2002 schrieben! 111 Jahre trotz Süßigkeitenverzehr, was will man mehr, alles andere wäre bei den leckeren Süßigkeiten, die sie hier machen auch wirklich ne Schande!