Quelle: pixabay
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Aus: „Auf Schatzsuche bei unseren Kindern – Ein Entdeckungsbuch für neugierige Eltern und Erzieher“ von Jirina Prekop und Gerald Hüther

ISBN: 978-3-466-30730-2

 

Ohne Vorurteile staunend die Welt entdecken, Seite 38 ff.

 

Spinnen sind schön

 

„Es ist doch komisch“ erzählte mir (J.P.) kürzlich eine Frau, „meine Tochter staunt darüber, wovor ich mich ekle. Warum ist bei der Begegnung mit einer Spinne mein kleines Kind tapferer als ich? Ich habe nämlich eine panische Angst vor Spinnen. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist eine Spinne zu sehen. Sobald ich sie bemerke, schreie ich wie von der Tarantel gestochen los. Eine kleine Spinne, die sich nicht schnell bewegt, zerquetsche ich sofort. Mit dem bloßen Fuß oder mit der Hand würde ich es aber nie wagen. Und wenn ich meine Schuhe nicht schnell genug hole und die Spinne mir wegläuft, dann gerate ich total in Panik. Glücklicherweise reagiert mein Mann auf mein hysterisches Schreien. Er ist meine einzige Rettung. Zuverlässig findet er die Spinne und irgendwie beseitigt er sie. Wie, das will ich gar nicht wissen. Sollte er dies nicht mehr für mich machen, werde ich mich von ihm trennen müssen. Verrückt! Ich weiß zwar, dass mir die Spinne nichts Böses tun kann. Sie greift mich nicht an und beißt mich nicht. Im Gegenteil: Sie läuft weg, weil sie Angst vor mir hat. Ich habe also eine absolut unlogische Angst. Seit wann ich diese Angst habe, weiß ich nicht genau. Als Kind konnte ich Spinnen durchaus dulden. Mein Cousin und ich hatten einen Lieblingsplatz zum Spielen: das Gartenhäuschen unseres Opas. Es war unser Königreich. Da gehörte eine dicke Spinne dazu, sie „wohnte“ sozusagen da. Zwischen der Dachrinne und dem Fensterrahmen arbeitete sie an ihrem Spinnennetz. Eigentlich habe ich ihr Werk gerne angeschaut, besonders dann, wenn nach dem Regen einige glitzernde Tropfen im Spinnennetz hingen. Ein schönes Bild: das Netz, die Regentropfen und die Spinne. Wann und warum sich die Angst eingeschlichen hat, kann ich mir nicht erklären. Heute fahre ich deswegen lieber nicht in die südlichen Länder, wo ich die wirklich gefährlichen Spinnen treffen könnte. Und ich schäme mich dafür. Sogar vor mir selber.“

 

Als ich der Frau vor einiger Zeit wieder begegnete, kam sie gerade von ihrem Urlaub aus Brasilien zurück. Erholt, frei, glücklich. Das gibt es doch nicht! Kann das die gleiche Frau sein, die aufgrund ihrer Spinnenphobie den Süden zu ihrer Tabuzone erklärte? Welcher Psychotherapie sie sich denn unterzogen habe, frage ich sie.

 

„Von wegen Psychotherapie! Nicht zu glauben, aber geholfen hat mir meine kleine Tochter Lisa. Ich ging mit Lisa in den Keller, um ein paar Flaschen Mineralwasser zu holen. Da läuft uns eine dicke Spinne über den Weg. Meine Schreie unterdrücke ich, denn ich möchte Lisa nicht erschrecken. Meinen Mann kann ich nicht rufen, weil er nicht zu Hause ist. Ich nehme also meinen ganzen Mut zusammen, um die Spinne selbst zu töten, denn dieses Monster hat in meinem Hause nichts zu suchen. Ich ziehe meinen Hausschuh aus und mache mich heldenhaft bereit, die Spinne zu töten. Dicht neben der Spinne aber hockt Lisa. Meine mörderischen Absichten bemerkt sie nicht. Sie ist begeistert darüber, wie die Spinne über ihre ausgestreckte Hand läuft. „Mama, Mama, guck mal, wie schön das Tierchen ist. Es kribbelt so lieb auf meiner Hand. Es schmust so nett.“O Gott! Werde ich je in der Lage sein, Lisas Hand anzufassen, wenn sie von der Spinne gebrandmarkt ist? O Schreck, was soll ich bloß machen? Meinem Kind zuliebe darf ich die Spinne nicht töten. Was für ein schlechtes Bild würde ich bei meinem Kind abgeben! Lisa würde in mir nicht mehr die liebe Mama, sondern die grausame Mörderin, die Hexe sehen. Weggehen kann ich aber auch nicht. Wenn ich mich wegdrehe, zieht mich Lisa zu sich, um ihre Freude an der Spinne mit mir zu teilen. Ganz vorsichtig, damit der Spinne ja nichts passiert, hindert Lisa mir ihren Händchen die Spinne daran wegzulaufen. „Mama, guck mal, sie hat auch Augen. Zwei Stück. So schön. Sie schaut mich an.“ Ich halte es aus. Nur meinem Kind zuliebe halte ich es aus. Und da wird das Kind von früher in mir wach. O ja, auch ich habe einst „meine“ Spinne bewundert. Das Bild von damals taucht wieder auf. Mit dem Glanz der glitzernden Regentropfen an dem Spinnennetz zwischen der Dachrinne und dem Fensterrahmen am Gartenhäuschen meines Opas. Und seitdem ist sie weg, meine Spinnenphobie. Lisa hat sie wegtherapiert, damals im Keller.“

 

Kein Mensch kommt mit einer angeborenen Angst vor Spinnen oder Schlangen, vor engen Räumen oder großen Höhen, vor Autos oder Flugzeugen auf die Welt. Was wir – wie alle Säugetiere – gewissermaßen von Anfang an in unserem Gehirn ausgebildet haben, sind einige in den älteren, tiefer liegenden Bereichen des Gehirns, im Stammhirn und im Thalamus, herausgeformte Nervenzellverschaltungen, die besonders empfindlich auf all jene Wahrnehmungen reagieren, die für ein Säugetier Lebensgefahr anzeigen: Stickig werdende Luft, sonderbare, immer lauter werdende Geräusche und eben bestimmte Sinneseindrücke. Zu letzteren zählt alles, was als etwas Großes und Dunkles auf uns zukommt, was blitzartig flüchtet, auch das, was schemenhaft wie Schlangen, Würmer oder aber auch Spinnen aussieht. Immer dann, wenn eines dieser archaischen Verschaltungsmuster im Gehirn durch eine entsprechende Wahrnehmung aktiviert wird, löst das eine so genannte Schreck- und Notfallreaktion aus. Dann springt man automatisch zurück, das Herz schlägt wie verrückt, die Haare stehen einem zu Berge und womöglich machen wir uns sogar sprichwörtlich in die Hose. Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil, diese angeborenen Schutz- und Fluchtreflexe können lebensrettend sein.

 

Problematisch wird das Ganze erst dann, wenn diese angeborenen Notfallreaktionen auch dann anspringen, wenn überhaupt keine Lebensgefahr besteht, also beispielsweise beim Anblick einer kleinen Spinne. Jeder weiß, dass selbst die größten bei uns vorkommenden Spinnen für uns Menschen völlig ungefährlich sind. Wenn jemand beim Anblick eines solchen Tieres dennoch völlig „kopflos“ in eine solch archaische Notfallreaktion verfällt, so hat das meist Gründe, die a priori nicht in seinem Gehirn, sondern in bestimmten Erfahrungen zu suchen sind, die der oder die Betroffene irgendwann, meist schon sehr früh im Leben, gemacht hat. Diese Erfahrungen sind dann auch sehr tief im Gehirn in Form entsprechender Verschaltungsmuster von Nervenzellen verankert. Deshalb sind sie später nur schwer wieder auflösbar.

 

Viele dieser frühen Erfahrungen machen wir allerdings gar nicht selbst – sozusagen am eigenen Leibe -, sondern wir übernehmen sie von anderen, meist von uns besonders wichtigen, uns nahe stehenden Personen. Jemand, der bei einer Mutter (oder einem Vater oder einer anderen vertrauten Person) aufwächst, die eine solche Panik vor Spinnen entwickelt hat, kann dieses überzogene Reaktionsmuster leicht übernehmen, vor allem dann, wenn die Beziehung sehr eng ist. Wenn andere Vorbilder fehlen und wenn keine eigenen Erfahrungen im persönlichen Umgang mit den jeweiligen Auslösern derartiger Panikreaktionen gemacht werden können, dann werden die entsprechenden Verhaltensmuster (und die dazugehörigen Vorsichtsmaßnahmen) übernommen und in das kindliche Gehirn eingeprägt. Das sieht dann so aus, als wäre die betreffende Verhaltensweise „von der Mutter (dem Vater, der Großmutter, etc.) vererbt“. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch nur um eine „transgenerational weitergegebene Erfahrung“. Aber die sitzt eben sehr fest. Deshalb muss schon etwas Einschneidendes, sehr Nachhaltiges in Form einer anderen, neuen Erfahrung erlebt werden, damit ein Mensch in die Lage versetzt wird, sich selbst mit seiner Phobie noch einmal neu, sozusagen „von außen“ betrachten zu können. Freunde schaffen das meist nicht, Psychotherapeuten auch nicht immer – und wenn, dann oft nur durch eine allmähliche Gewöhnung an die betreffenden Auslöser. Aber die eigenen Kinder sind, wie das Beispiel zeigt, oft die besten Therapeuten: „Schau mal, Mama, wie schön sie ist …“.

 

 

Manchmal genügt so ein Satz, um die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Eben mit den Augen eines neugierigen, unvoreingenommenen, sich an den Wundern der Welt begeisternden Kindes – eines Kindes, wie man selbst einmal eines war, bevor einem die Angst vor Spinnen und allem möglichen anderen „Monstern“ eingeredet wurde.